Jürgen Samtleben
Rechtspraxis und Rechtskultur in Brasilien und Lateinamerika
Beiträge aus internationaler und regionaler Perspektive
"Rezensieren heißt mustern". So fasste kürzlich eine große Tageszeitung (Magnus Klaue, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.5.2011, S. N5) den Doppelsinn des Begriffs zusammen: Ein Werk zu mustern, meine beides, es zu betrachten und es zu beurteilen, wobei der Beurteilende den Gegenstand selber zu erfahren habe. Im Fall des hier zu musternden Bandes muss schon die bloße Betrachtung imponieren. Denn es handelt sich um eine beachtliche Zahl von Aufsätzen, ergänzt um Fallstudien, in denen der Autor sich zumeist aktuellen Fragen, teilweise auch rechtshistorischen Gegenständen widmet. Dennoch ist es dem Vorwort zufolge nur eine "Auswahl von Beiträgen", die in vier Jahrzehnten wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem lateinamerikanischen Recht im Allgemeinen und dem brasilianischen im Besonderen entstanden sind. Den Schwerpunkt bilden Fragen des inter nationalen Privat- und des Vertragsrechts, ergänzt um ein großes Kapitel zum Mercosur. Hinzu kommen Abhandlungen zur Ideengeschichte und zum Verfassungsrecht einzelner Staaten, so dass jeder, der sich einmal mit dem überseeischen Rechts- und Verfassungsvergleich befasst hat oder dies plant, manchen interessanten, weiter führenden Aufsatz finden sollte.
Wenn es daher um den zweiten Aspekt jener eingangs erwähnten "Musterung" geht, die Beurteilung, so fällt diese durchweg positiv aus. Allenfalls hätte es sich - angesichts der Vielfalt und Komplexität der behandelten Fragen - angeboten, den Band um eine Einleitung oder ein Schlusskapitel zu ergänzen. Auf diesem Wege ließen sich einzelne, besonders wichtige und wiederkehrende Phänomene hervorheben und das große Angebot an Informationen und Quellen durch eine solche inhaltliche Klammer noch besser zusammen binden. Von diesem eher geringfügigen Einwand abgesehen, seien aus dem Band einige Beiträge, die den Schwerpunkt "Verfassung und Recht in Übersee" betreffen, besonders hervorgehoben: Reizvoll ist etwa die Untersuchung der Gerichtsverfassungen in Brasilien und Argenlinien, insofern der Autor diese in einen Vergleich der föderalen Systeme beider Staaten einfügt (S. 82 ff.). Die Verfassungen legen die Organisationshoheit der Provinzen fest mit einer detaillierten (enumerativen) Aufzählung der Bundeskompetenzen, weisen im Übrigen aber manche, auch historisch begründete Unterschiede auf. Wer sich für die Ideengeschichte Lateinamerikas interessiert, dem sei ferner der ausführliche Beitrag über die Wirkung Jeremy Benthams empfohlen (S. 321 ff.), der gute Aufschlüsse über die Rezeption europäischer Philosophen und Staatstheoretiker gibt. Bentham ist nur einer von zahlreichen, zumeist liberalen Denkern, die in Lateinamerika während des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus noch Staatsmänner und Gelehrte inspirierten, während sie in ihren Heimatländern in Vergessenheit geraten oder niemals wirklich bekannt geworden waren. Zur ersten Kategorie gehört außer Bentham auch Benjamin Constant, zur zweiten Karl Christian Friedrich Krause.
Schließlich sei auf den bereits zuvor in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beitrag zur Verfassungsentwicklung in Peru nach dem Ende der Regierungszeit Alberto Fujimoris hingewiesen, der speziell die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Blick nimmt. Hier wie im gesamten Band überzeugt die sachliche, an den einschlägigen juristischen Begriffen und Vorschriften orientierte Darlegung, ohne dass der Autor deshalb die politischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten beschönigt. So erwähnt er für die peruanische Gerichtsbarkeit die Neigung zu Kompetenzüberschreitungen (S. 549) und weist bezüglich der obersten Staatsorgane auf Manipulationen und Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip hin (S. 530 f.).
Diese Hervorhebungen sollen aber keineswegs den Blick auf den eigentlichen Schwer punkt des Bandes verstellen, den das geltende Recht und speziell das (internationale) Wirtschaftsrecht ausmachen. Der Fall Brasilien verdient auch deshalb eine besondere Aufmerksamkeit, weil die Kontroversen um die Nutzung der natürlichen Ressourcen und um den auch hier zunehmend knapperen Boden immer schärfer werden und wegen der grenzüberschreitenden Bedeutung auch zu Fragen des internationalen Privat- und Vertragsrechts geworden sind. In einzelnen Staaten, so in Goias wegen der guten Voraussetzungen für den Soja-Anbau, gehen immer größere Flächen in die Hand ausländischer Investoren über. Daher versuchen die öffentlichen Gewalten in Brasilien, solchen Verträgen durch Auslegung oder Anpassung bestehender Normen Grenzen zu setzen -eine Frage, die inzwischen eine erhebliche rechtspolitische Bedeutung gewonnen hat und auch in Europa zum Gegenstand der öffentlichen Debatte geworden ist (stellvertretend Jean-Pierre Langellier, Le Monde vom 10.6.2011, S. 10).
Andreas Timmermann, Berlin
Quelle: VRÜ, Verfassung und Recht in Übersee, Ausgabe 4, 2011, Seite 616f.