Jochen Kutter, Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus Neuss.
Shaker Verlag, Aachen 2008. 253 Seiten, 25 Abbildungen, 67 Schwarzweißtafeln, 3 Farbtafeln, I Kartenanhang.
Seit wenigen Jahren beschäftigt sich die internationale Forschergemeinde wieder vermehrt mit Fragen zur Schriftlichkeit in den römischen Provinzen. Dies dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass man seit den spektakulären Schreibtäfelchen von Vindolanda und der Aufarbeitung der Kleininschriften aus dem Schutthügel von Vindonissa die Gewissheit hat, dass die Schriftkultur der westlichen Provinzen ähnlich komplex war wie die durch die Papyri schon lange belegte Litera-lität im Osten des Reiches.
Neben Schreibmaterial und Schreibgerät (M. Feugère / P.-Y. Lambert [Hrsg.], L´écriture dans la société gallo-romaine. Elements e réflexion collective. Gallia 61, 2004, 1-192) stehen in den gallisch-germanischen Provinzen auf Grund der hiesigen Erhaltungsbedingungen vor allem die zahlreichen Graffiti auf Gefäßkeramik im Fokus des Interesses.
Die anzuzeigende Arbeit von Jochen Kutter über die Graffiti aus Neuss steht in der Tradition einer ganzen Reihe analoger Grafittopublikationen in einer vergleichsweise gut erschlossenen Forschungslandschaft. Im Gegensatz zu anderen römischen Provinzen, deren Graffitomaterial erst in allerjüngster Zeit punktuell vorgelegt wurde oder gerade bearbeitet wird — zum. Beispiel die südliche Germania superior mit Äugst und Avenches -, sind die Graffiti der Germania inferior bereits vor einiger Zeit in einer größeren Fläche erfasst worden, zumindest soweit sie 1975 im Landesmuseum Bonn greifbar waren (B. Galsterer-Kröll, Graffiti auf römischer Keramik im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Epigr. Studien 10 [Köln und Bonn 19-75]). Dazu kommen separate Veröf¬fentlichungen der Graffitibestände einzelner Orte wie Asberg (T. Bechert, Steindenkmäler und Gefäßinschriften. Funde aus Asciburgium 4 [Duisburg 1976]) oder des im nördlichen Teil der Großprovinz Germania gelegenen Militärstützpunktes Haltern (B. Galsterer, Die Graffiti auf der römischen Gefäßkeramik aus Haltern. Boden¬altertümer Westfalens 20 [Münster 1983]). Gleichzeitig mit dem anzuzeigenden Titel entstanden ist eine Arbeit über Graffiti aus Xanten (St. Weiß-König, Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus dem Bereich der Colonia UlpiaTraiana/Xanten [in Vorb.]).
Mit der Arbeit von Kutter liegen nun die Graffiti auf Gefäßkeramik aus Novaesium (Neuss) vor, deren Bearbeitung Brigitte Galsterer-Kröll bereits 1975 an¬geregt hatte, auf Grund anderer Verpflichtungen aber nicht weiterverfolgen konnte. Es handelt sich um eine 2007 am Institut für Kunstgeschichte und Archäologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn abgeschlossene Dissertation, die schon ein Jahr später in einem der heute günstigen Dissertationsdrucke erscheinen konnte. Der Autor hatte sich bereits in seiner Magisterarbeit mit den Graffiti aus dem Clemens-Sels-Museum in Neuss beschäftigt und gemeinsam mit Carl Pause einen populärwissenschaftlichen Ausstellungska¬talog vorgelegt (Geritzt und gestempelt. Schriftzeugnisse aus dem römischen Neuss [Neuss 2006]).
Die Arbeit wird schon auf Grund des Fundplatzes auf großes Interesse stoßen, ist doch Neuss für die provinzi-alrömische Archäologie in Deutschland ein besonderer Ort. Novaesium wurde um 16 v. Chr. gegründet und gehört damit zu den frühesten Militärstandorten am Rhein. Es blieb das gesamte erste Jahrhundert über durch Legionen beziehungsweise Legionsvexillationen besetzt. Auch wenn wir heute wissen, dass die unter Agrippa ausgebaute Südnordstraße quer durch Gallien bis zum Niederrhein nicht in Neuss endete, sondern weiter den Rhein entlang bis nach Nimwegen führte, ändert dies nichts an der Rolle von Neuss als einem bedeutenden Aufmarschplatz für das römische Heer gerade in der offensiven augusteisch-frühtiberischen Phase. Offenbar war der Stützpunkt immer nur für kurze Zeit belegt, und so folgten östlich des Meertals zwischen Rhein und Erftmündung bis Anfang der vierziger Jahre des ersten Jahrhunderts mindestens zehn Holz-Erde-Lager mit diversen Bauphasen aufeinander. Als Besatzungen lassen sich Vexillationen in wechselnder Stärke und Zusammensetzung annehmen. Schlaglichtartig wird die Besatzung während der Meutereien nach dem Tod des Augustus deutlich: Laut Tacitus (Ann. 1, 31) lagen damals die Hauptteile der Legionen I, V Alaudae, XX Valeria Victrix und XXI Rapax im Gebiet der Ubier am Rhein, und zwar in einem namenlosen Sommerlager, das üblicherweise mit Novaesium gleichgesetzt wird. In der Frühzeit war Neuss also Sammelplatz, Durchgangslager und Nachschubbasis in einem, besaß eine hohe Truppenfluktuation und war vom Charakter her sehr ähnlich den immer wieder aufgesuchten Lagerplätzen Dorsten-Holsterhausen oder Trebur-Geinsheim, wenn auch ziemlich sicher mehr oder weniger durchgehend belegt.
In den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren änderte sich der Charakter des Stützpunktes zu einem fest verorteten Truppenstandort (castra hiberna) an der Flussgrenze. Östlich des bisherigen Lagerareals wurde ein neues Legionslager errichtet, das nach seinem Ausgrä¬ber »Koenenlager« genannt wird und auf Grund seines vollständig anmutenden Ruinenplans einer der Klassiker des Faches geworden ist. Es wurde wohl noch von der Legio XX Valeria Victrix errichtet, und im Verlauf des großen Truppenrevirements zu Anfang des claudischen Britannienfeldzugs 43 n. Chr. bezog die Legio XVI hier Quartier. Diese wiederum wurde nach dem Bürgerkrieg 69/70 n.Chr. durch die Legio VI Victrix ersetzt, die bis zum Ende des Lagers (Terminus post quem 103) in Neuss stationiert war. Nach einem gewissen Hiatus wurde ungefähr in der Mitte des zweiten Jahrhunderts im Bereich der ehemaligen Mittelgebäude ein Auxiliar-lager eingerichtet, das vermutlich über das Jahr 260 hinaus bestand.
Auf Grund seiner Forschungsgeschichte ist Novaesium nicht einfach zu verstehen, denn trotz einiger Publikationen der innerhalb der Limesforschungen groß angelegten Novaesium-Reihe ist der Militärstandort.
Neuss für uns bis heute nicht wirklich greifbar. Die bisherige Strategie, die Neusser Großgrabungen getrennt nach Sachgruppen auszuwerten, hat sich letztlich als verfehlt erwiesen. Darüber hinaus sind die im Lauf der Grabungen mehrfach wechselnden Lagerbezeichnungen und auch Datierungen für den Außenstehenden kaum noch nachzuvollziehen, so dass der Autor gut daran tut, Topografie und Chronologie von Novaesium in einleitenden Kapiteln recht kurz abzuhandeln und nur tabellenartig auf die Ergebnisse der laufenden Neubearbeitung der Befunde durch Michael Gechter zu rekurrieren (mit Konkordanz alter und neuer Lagerbezeichnungen auf dem Arbeitsstand von 2OO4).
Der Verfasser hat große Mühen unternommen, die in zahlreichen Sammlungen und Museen weit verstreuten Funde aus Neuss zusammenzufuhren und aufzunehmen. Den Hauptteil des Katalogs bilden die Altfunde der Sammlung Heinrich Sels vor 1907, die überwiegend aus den Sels´schen Ringofenziegeleien im Bereich der frühen Lagerstrukturen A-I aufgesammelt wurden, sowie die heute im Landesmuseum Bonn aufbewahrten Funde aus der Grabung Koenen im Areal des Lagers K und die Graffiti aus den sämtliche Areale von Novaesium umfassenden Schwerpunktgrabungen zwischen 1955 und 1983. Da keine komplette Durchsicht der tonnenweise angefallenen Scherbenmassen möglich war, hat Kutter mittels einfacher Zufallsstichprobe geprüft, ob die aus Inventarlisten und eigener Suche erfasste Stückzahl repräsentativ für den Gesamtbestand ist, ein eigentlich recht simples Verfahren, das gerade bei der Aufnahme von Altmaterial zum Standard werden sollte, um die Aussagekraft des eigenen Material besser einschätzen zu können.
Erfasst wurden so unter anderem 957 Ritzungen, fünf Pinselaufschriften (Dipinti; Kat. 604, 704, 754, 816 und 817), ein Stempel auf einer Amphorenwandung (Kat. 401) und eine vor dem Brand des Gefäßes mit Tonschlicker aufgetragene Inschrift (Kat. 253). Insgesamt sind es 964 Nummern, die in einem kommentierten Fundkatalog, dem Hauptteil der Publikation, vorgelegt werden (S. 102-231). Dessen Vorbemerkungen wiederholen zum Teil einiges aus dem sechsten (Zur Methode der Wiedergabe der Graffiti) und siebten Ka¬pitel (Auswertung des Materials, besonders 7.1-7.3.2). Hier wäre eine Straffung der Informationen nützlich gewesen. Das Ziel der Arbeit war nach den Worten des Autors natürlich »eine Erfassung der Graffiti und nicht eine keramikkundliche Bestimmung der Schriftträger« (S.33). Trotzdem bilden Schriftträger und Schrift eine unzertrennliche Einheit und müssen dementsprechend dokumentiert werden, zeichnerisch oder im Foto. Auf den Schwarzweißtafeln sind jedoch nur die Graffiti selbst wiedergegeben, ohne dass in allen Fällen die Position der Schrift auf dem jeweiligen Gefäß klar wird. Die Graffiti wurden mittels direkt auf die Keramikoberflä¬che gelegter flexibler Folien durchgezeichnet, dies aber, soweit an den wenigen Farbfotografien nachvollziehbar, keineswegs allzu genau. Im Vergleich zum Beispiel zu den Zeichnungen bei M. Scholz, Graffiti auf römischen Tongefäßen aus Nida-Heddernheim (Frankfurt a. M. 1999) wird deutlich, dass durch diese Unscharfen gerade der Duktus der Beschriftung nicht mehr eindeutig zu bewerten ist.
Die Datierungen der Graffiti im Katalog orientieren sich bei der Terra Sigillata an Stempeldatierung, Gefäßform, Fundstelle und Fundumständen, wobei letztere vom Leser nicht überprüfbar sind, da sie nur mündlich durch den Bearbeiter Michael Gechter mitgeteilt wurden (S. 102 Anm. 359). Der Verfasser tut auf jeden Fall gut daran, das Material für die Auswertung gegenüber den genauen Datierungen im Katalog in nur drei grob unterteilte Perioden zu scheiden; mehr gibt das Material im Ganzen nicht her: